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Eine kleine Geschichte und unterschiedliche Betrachtungsweisen

Ich möchte diesen Artikel mit einer kleinen Geschichte beginnen.

Ein alter Mann und sein Sohn leben in ziemlicher Armut auf einem Bauernhof. Der Mann hat genug davon und beschließt, Pferde zu züchten. Er leiht sich bei seinen Nachbarn Geld und kauft schließlich einen Zuchthengst. Nach ein paar Tagen vergisst der Mann, den Stall richtig zu verschließen und der Hengst bricht aus. Seine Nachbarn sagen: 'Du armer Mann! Der Hengst ist weg und damit all das Geld, dass du dir von uns geliehen hast!'. Der Mann sagt nur: 'Wer weiß, wofür es gut ist.'. Der Hengst mischt sich unter einer Herde frei lebender Pferde und führt sie schließlich alle zu dem Stall, aus dem er ausgebrochen ist. Die Nachbarn sagen: 'Du Glücklicher! Nun hast den Hengst zurück und eine ansehnliche Menge Pferde dazu, die du nun verkaufen kannst!'. Der Mann sagt nur: 'Wer weiß, wofür es gut ist.'. Am nächsten Tag machen sich der alte Mann und sein Sohn daran, die Pferde zuzureiten, damit sie verkauft werden können. Dabei wird der Sohn von einem Pferd abgeworfen und so schwer verletzt, dass er fortan nur noch humpeln kann. Die Nachbarn sagen: 'Der arme Junge! So wird er nie eine Frau abbekommen!'. Der Mann sagt nur - Sie ahnen es schon: 'Wer weiß, wofür es gut ist.'. Wenig später zieht der König dieses Landes in den Krieg und zwangsrekrutiert alle gesunden jungen Männer. Die Nachbarn sagen zu dem Mann: 'Du Glücklicher! Dein Sohn muss nicht in den Krieg ziehen, während wir nicht wissen, ob wir unsere Söhne jemals wiedersehen.'. Der Mann antwortet nur 'Wer weiß, wofür es gut ist.'.

Diese Geschichte ließe sich beliebig fortsetzen. Der Punkt ist, dass man einfach nicht abschätzen kann, welche guten und weniger guten Konsequenzen ein Ereignis in der Zukunft nach sieht zieht. Verpasst man sein Flugzeug, ist das erst einmal sehr ärgerlich. Stürzt dieses Flugzeug aber später ab, sieht die Sache aber ganz anders aus.

Diese kleine Geschichte, die ein indischer Professor erzählte, ist vermutlich eine Variante der Parabel Glück im Unglück – Unglück im Glück aus dem daoistischen Huainanzi.

Wenngleich der Stoiker, genauso wie der alte Mann in der Geschichte, die Ereignisse akzeptiert, hat er andere Gründe dafür. Der Stoizismus kennt die Disziplin der Zustimmung (sygkatáthesis, sinkəˈtathəsə̇s), in der schlicht alles, was nicht der vollkommenen eigenen Kontrolle unterliegt, also unsere gesamte Außenwelt, als indifferent akzeptiert wird. In seinem Handbuch (Enchiridion) schreibt Epictetus dazu: "Strebe nicht danach, dass sich die Dinge so entwickeln, wie du es willst, sondern wünsche dir, dass die Dinge sich so entwickeln, wie sie es tun und dein Leben verläuft glatt.".

Der Daoist hingegen wird von der Erkenntnis geleitet, dass man Glück und Unglück einer Situation nicht so leicht beurteilen kann. Auch Steve Jobs sprach in seinem berühmten Commencement-Speech davon, dass man erst hinterher 'die Punkte verbinden kann'.

Und ein moderner Wissenschaftler würde vielleicht Methoden Stochastik, wie den Erwartungswert (Expected Value) oder das Cynefin-Framework auf die verschiedenen Ereignisse anwenden. Cynefin (kʌnɨvɪn) ist ein Wort aus der walisischen Sprache und dient als Name für ein Framework des Forschers Dave Snowden. Das Framework unterteilt komplexe Systeme - wie unser Leben - in fünf verschiedene Klassen (Domänen),  zu den es jeweils unterschiedliche Ansätze zur Bewertung und Problemlösung gibt. Der Wissenschaftler würde sich also zumindest grob überlegen, wie man die Ereignisse bewerten könnte.

Ich halte alle Ansätze für wertvoll und sehe hier auch keinen Widerspruch für den modernen Stoiker. Wir erinnern uns - der Stoiker akzeptiert zwar die Ereignisse des Lebens, doch er bleibt nicht untätig, wenn er ein Problem zu lösen hat. Dabei hilft ihm die Erkenntnis, dass eine Bewertung der Konsequenzen aus dem Ereignis oft erst im Nachhinein möglich ist, aber er findet, wenn er sich trotzdem an einer lebenspraktischen Bewertung versuchen muss, eine Hilfe in den Methoden und Modellen, welche die Wissenschaft entwickelt hat.



#stoizismus

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